Du bist ein Gott, der mich sieht. Genesis 16,13
Bereits mit dem Kirchentag zum 500sten Reformationsjubiläum im Jahr 2017 kam mir dieser Vers erstmals so richtig ins Bewusstsein. Denn da war die Jahreslosung für 2023 schon einmal das Motto: “Du siehst mich.“
Dieser kurze Satz bringt die Wiederentdeckung auf den Punkt, die Martin Luther gemacht hatte: Jeder Mensch steht in unmittelbarer Beziehung zu Gott. Sozusagen von Angesicht zu Angesicht. Da braucht es keine Vermittlung, schon gar nicht die eines Priesters oder der Kirche. Sondern Gott sieht den einzelnen Menschen und will von ihm seinerseits gesehen werden.
Der Gott, der uns sieht, wirft keine wertenden und kalten Blicke auf uns. Sondern sein Blick ist liebevoll und verleiht uns Würde – im Wortsinn: Ansehen.
In der Bibel ist dieser Satz das Bekenntnis einer Frau Namens Hagar. Sie war die Magd Saras, der Frau des Abraham. Und weil Sara kein Kind bekommen konnte, hatte Hagar gewissermaßen die Leihmutterschaft übernommen und war von Abraham schwanger geworden. Dass eine Magd ihrer Herrin diesen Dienst erwies, war damals gar nicht so unüblich. Aber nun trug es sich zu, dass Sara auf Hagar eifersüchtig wurde und sie regelrecht wegekelte. In ihrer Verzweiflung floh Hagar in die Wüste. (Vielleicht kommt daher die Redewendung, „Jemanden in die Wüste schicken“, wenn jemand fallengelassen und verstoßen wird.) Und dort hat sie eine direkte Begegnung mit Gott, der sie tröstet und aufrichtet und ihr den Mut zum nächsten Schritt gibt. Diesen Gott nennt sie: „Der du mich ansiehst.“
Miriam Buthmann hat aus dieser Geschichte ein Lied gemacht, das mit den Worten der Jahreslosung beginnt. Es steht am Anfang der freiTÖNE, dem Choralheft mit neuen Liedern, und ist inzwischen in vielen Gemeinden sehr beliebt. In einer Strophe heißt es: „Die Sorge bleibt, doch bedroht mich nicht.“ Diese Zeile nimmt die Probleme unserer Zeit ernst. Sorgen bekümmern jede und jeden, die oder der mit offenen Augen durch die Weltgeschichte läuft. Der Glaube der biblischen Hagar an einen Gott, der sie mit ihrem Lebensglück aber eben auch mit ihren Sorgen aufmerksam, teilnahmsvoll und wertschätzend anschaut, ist für mich eine Kraftquelle und schenkt mir Lebensmut. Mit dieser Losung vor Augen können wir – ohne das Schwere auszublenden – dem neuen Jahr hoffnungsvoll und aufgerichtet entgegengehen.
Ihr Friedrich Selter,
Regionalbischof im Sprengel Osnabrück