Bürgerpredigt zum Reformationstag

Nachricht 02. November 2022

Predigt von Hr. Michael Clasen

Am 31.10. hielt Herr Clasen die Predigt im Gottesdienst. Zum Nachlesen haben wir sie unten wiedergegeben.

Michael Clasen ist Jahrgang 1976. Seit vielen Jahren arbeitet Michael Clasen als Politik-Redakteur bei der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Dabei bereiste er dutzende Mal die Kriegs- und Krisengebiete in Afghanistan, Pakistan, Irak und Nahost. Von 2011 bis 2013 war er stellvertretender Leiter der Redaktion Politik/Wirtschaft, bevor er in die Leitung des Medienhauses wechselte. Seit 2021 ist er Chef vom Dienst der Gemeinschaftsredaktion von NOZ und Medienholding Nord für noz.de, shz.de und svz.de. Im Gespräch mit ihm spürte ich deutlich, dass er die Prägekraft des christlichen Glaubens in unserer Welt bejaht. Und in seiner Tätigkeit als Medienschaffender die Reformationszeit spannend findet, in der die damals brandneuen Medien Buchdruck und Gemeindelied viel bewegt haben. Der Vater von fünf Kindern spielt leidenschaftlich gern Golf und hütet Hühner und Bienen. Er lebt mit seiner Familie im Ortsteil Herringhausen.


 

Liebe Gläubige,

ich bin kein Mann der Kanzel. Deshalb fühle ich mich heute wie ein Butler, der einmal König sein darf. Und um ehrlich zu sein: Das ist ein schönes Gefühl, in die Gesichter von so vielen netten Menschen schauen zu dürfen. Deshalb bin ich Pastor Andreas Pöhlmann dankbar, hier sein zu dürfen, um an diesem Reformationstag über die Macht und Ohnmacht von Kirche und Medien in unruhigen Zeiten zu sprechen.

Gut 500 Jahre nach Martin Luthers Anschlag der 95 Thesen sind bei allen Unterschieden manche Parallelen verblüffend. Denn wie damals gibt es auch heute epochale Umbrüche. Jeder von uns spürt es.

Wir stehen am Vorabend der wohl schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Die Angst vor Armut frisst sich bis in die Mittelschicht hinein.

in der Ukraine tobt seit dem 24. Februar ein Angriffskrieg des Despoten Putin, Hunderttausende Tote und Verletzte sind zu beklagen, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die Welt stand wohl noch nie so nah an der Schwelle zum Atomkrieg wie heute.

Die nächste Flüchtlingswelle wird größer sein als die von 2015

die erneute Dürre im Sommer führt uns die Gefahren des Klimawandels vor Augen.

Und die Folgen von der Corona-Pandemie wirken immer noch folgenschwer nach.

Martin Luther lebte ebenso in einer Epoche des Umbruchs: Kolumbus und andere Explorer entdeckten die Neue Welt. Die Pest wütete in vielen Städten. Die Türken belagerten erstmals Wien. Machtkämpfe und Kriege durchzogen Europa. Die Bauernaufstände erreichten einen Höhepunkt. Vor allem aber zerbrach die Vormachtstellung des Papstes. Maßgeblich angetrieben von eben diesem Martin Luther, der gegen Ablasshandel, Inquisition, Vetternwirtschaft und die „Anti-Christen“ in Rom kämpfte.

Luther setzte nicht auf das Schwert, sondern auf eine Macht, die viele heute noch unterschätzen: die Medien. Der Bettelmönch mit Doktorwürden war im ausgehenden Mittelalter der erste Medienstar. Er nutzte die noch relative neue Technik des Buchdrucks, übersetzte die Bibel vom Lateinischen ins Deutsche und ließ sie mit Bildern illustrieren, sodass der Klerus sein Monopol auf die Deutung von Gottes Wort verlor. Zugleich scheute Luther nicht davor zurück, prägnante Botschaften auszusprechen, in denen er unendlich mutig offensichtliches Unrecht anprangerte. Wie gefällt dir das, Papstesel? fragte Luther etwa keck in seiner Schrift „ Wider das Papsttum zu Rom , vom Teufel gestiftet“ (1545). „Wer Gott reden hören will, der lese die heilige Schrift, wer den Teufel reden hören will, der lese des Papstes Dekrete und Bullen.“

Medien sind weiterhin mächtig. Das meiste, was wir glauben, über die Welt zu wissen, kennen wir aus den Massenmedien. Diese befinden sich derzeit in einem radikalen Wandel. Bücher, Radio, Zeitungen und Fernsehsender gibt es zwar noch, doch Youtube, Facebook, Instagram, Twitter und Messengerdienste übernehmen die Gatekeeper-Funktion klassischer Massenmedien.

Sie entscheiden zunehmend über Algorithmen, was wir sehen, hören, lesen, also glauben zu wissen. Und sie entscheiden darüber, wer senden darf. Das Beispiel Donald Trump unterstreicht die ambivalente Macht der neuen Medienimperien, die politische Strömungen klein oder groß werden lassen können. Oder hätte ein Aufrührer wie Martin Luther noch ein Twitteraccount? Oder wäre er gefördert worden wie Greta Thunberg? Sollte vielleicht der Papst anstelle von Elon Musk Twitter kaufen? Ein interessantes Gedankenexperiment.

Gleichzeitig steigt der Medienkonsum rasant. Die Menschen werden förmlich zugeballert mit Tweets und Pics. Selbst Jugendliche verbringen vor dem Smartphone weit mehr Zeit als mit ihren Eltern und Freunden. Hinzu kommen von politischen Akteuren oder Staaten gesteuerte Fake News-Kampagnen und Erregungswellen im Namen einer Cancel-Culture. So droht selbst aus einem Held vergangener Kindheitstage wie Winnetou etwas Unschönes zu werden.

Gleichzeitig weisen etlichen Studien zur Mediennutzung darauf hin, dass sich immer mehr Erwachsene kaum politisch bilden oder Nachrichten lesen – ganz zu schweigen von religiösen Themen. Wenn sich aber immer weniger Menschen für Demokratie interessieren, was sich auch aus sinkenden Wahlbeteiligungen ablesen lässt, was bedeutet das am Ende für unsere Freiheit? Bei der Landtagswahl in Niedersachsen gaben gut 60 Prozent der Wähler ihre Stimme. Die Partei der Nichtwähler war somit stärkste Kraft. Bei der Oberbürgermeisterwahl in Flensburg vor wenigen Monaten nahmen im ersten Wahlgang nur 36,8% der Wähler teil, bei der Stichwahl waren es 32,8 %. Das stimmt schon nachdenklich.

Ein ganz ähnliches Relevanz- und Aufmerksamkeitsproblem hat das Christentum in westlichen Gesellschaften. Heute kämpft die katholische Kirche mit leeren Kirchen und Kirchenaustritten. Der nicht enden wollende Missbrauchsskandal ist ein Grund. Ich saß diesbezüglich vor drei, vier Jahren mit Würdenträgern zusammen. Sie waren sehr besorgt, ob die Kirche diesen Skandal übersteht. Seitdem haben ich ihre Gesichter vor Augen, wenn ich das Wort Pessimismus höre. Ich sagte ihnen, dass die Kirche eine Art Todsünde begangen habe, die unentschuldbar sei. Nur erkläre der Missbrauchsskandal nicht den Niedergang der katholischen Kirche allein. Bei den Protestanten leeren sich ja auch die Kirchen. In anderen westlichen Demokratien ist ein ganz ähnlicher Trend zu sehen. Nicht der alleinige, aber ein gewichtiger Grund dabei ist: Wer in den Massenmedien kaum noch vorkommt, kommt auch in der realen Welt kaum noch vor. Es reicht auch nicht, ein bisschen zu twittern oder einen Clip auf Instagram zu posten. Oder warum sollten wieder mehr Menschen den Kirchen zuhören? Was hat die Kirchen den Menschen noch konkret zu sagen? Und wenn sie etwas zu sagen hat zu Themen der Zeit, findet sie dann noch Gehör?

Müsste die Kirche eine deutliche Position zum Ukraine-Krieg haben? Wer setzt sich noch für die Friedensbotschaft ein, dass frei nach dem Propheten Micha Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln gemacht werden?

Wer hat in der Corona-Pandemie Hoffnung gemacht, den Deutschen übertrieben Ängste genommen und hörbar gerufen: Fürchtet euch nicht?

Oder hätten unsere Landwirte nicht eine stärkere moralische Unterstützung und mehr gesellschaftliche Anerkennung verdient, die uns doch vor Missernten und Hungersnöten bewahren?

Es gäbe viele weiteren Themen, was richtig oder falsch ist, vermag ich gar nicht zu sagen. Martin Luther hatte aber eine Botschaft. Jesus Christus auch. Und beiden hörten die Massen zu. In der westlichen Welt gibt es bald mehr Nicht-Christen als Christen. Und unter den übrig gebliebenen Christen scheinen immer mehr zu schweigen anstatt für eine bessere Welt aufzubegehren. Nichts gegen Computerspiele und Posts vom Urlaub oder Abendessen auf Social Media und im Chatroom: Aber wer glaubt wirklich, dass dadurch unsere Gesellschaft auch nur ein Stück klüger, gerechter oder besser wird?

Deshalb brauchen wir Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Verbände und freie, unabhängige und seriöse Medien mehr denn je. Und natürlich die Kirchen. Denn nur sie allein sind der Kompass unserer Gesellschaft für Werte wie die Nächstenliebe.

Was wären wir ärmer, gäbe es keine Kirchen –in der Bildung, im Sozialen, in der Pflege, in den Krankenhäusern. Wer spendet den Sterbenden und Trauernden Trost, wer schenkt dem Fremden liebe, wer lehrt unserem Nachwuchs Nächstenliebe? Es kommt nicht von ungefähr, dass Deutschland Millionen von Schutzsuchenden aus aller Welt in den vergangenen Jahren aufgenommen hat. Ohne das christliche Credo der Nächstenliebe wäre das kaum möglich gewesen. Und noch etwas lehren Ikonen des christlichen Glaubens wie Jesus und Luther: Mut und Zuversicht.

Ich habe auf meinen Reisen in die Kriegsgebiete im Irak, Afghanistan und jetzt in die Ukraine und anderswo immer Menschen getroffen, die mir imponiert haben, weil sie weder Mut noch Zuversicht verloren hatten. Darunter waren Juden, Buddhisten, Sunniten, Jesiden und im Irak verfolgte Christen, Frauen, Männer, aber auch Kinder. Jeder von ihnen hat mehr Leid erlitten und Schicksalsschläge einstecken müssen als die meisten von uns. Keiner von ihnen war aber von Gleichgültigkeit, Trägheit, Bequemlichkeit oder Dummheit befallen. Sie vermochten es, trotz Todesdrohungen, Raketeneinschlägen und Terroranschlägen nicht aufzugeben und dafür zu kämpfen, wofür sie glaubten – und sie wirkten dabei durchaus nicht unglücklich.

Die jetzt anstehenden Krisen sollten wir deshalb als Appell an uns selbst verstehen, mit Mut, Zuversicht und Nächstenliebe die Herausforderungen zu gestalten, dabei Maß und Mitte zu halten, ohne Hasspredigern, Traumschlägern und Hasardeuren auf den Leim zu gehen.

Gerade mit Blick auf das schreckliche Verbrechen der russischen Führung sollten wir uns dafür einsetzen, was Jesus in seiner Bergpredigt sagte:

„Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen,

tut Gutes denen, die euch hassen,

bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen,

damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet;

denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten,

und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

So lasst uns mit neuem Selbstbewusstsein alles versuchen, das Vernünftige zu tun, auch wenn es anfänglich sinnlos und unmöglich erscheint. Denn der größte Feind der Freiheit ist die Gleichgültigkeit.

Amen